Dienstag, 11. Januar 2011

Mutmaßlich

Auf der Website der Tageschau (http://www.tagesschau.de/ausland/schiessereituscon110.html) lese ich den Anreißer über einem Bericht zum Massaker in Tucson:
"Nach dem Anschlag auf die Kongressabgeordnete Giffords im US-Bundesstaat Arizona hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den mutmaßlichen Täter erhoben. Der 22-Jährige, der nach Angaben der Behörden psychisch gestört ist, muss sich wegen Mordes und versuchten Mordes verantworten. Er wird heute erstmals dem Richter vorgeführt. Über sein Motiv wird weiter gerätselt. Er hat sechs Menschen erschossen und 14 verletzt."

Nun habe ich alles Verständnis der Welt dafür, daß es seit vielen, vielen Jahren in den deutschen Medien üblich (oder sogar obligatorisch) ist, noch nicht verurteilte Verdächtige als "mutmaßliche Täter" anzusprechen. Wenn kein Geständnis vorliegt (und selbst dann gibt es gelegentlich Überraschungen) ist es immer noch möglich, daß der mutmaßliche Täter sich als unschuldig erweist.
Hier aber ist der Täter auf frischer Tat festgenommen worden, er wurde noch am Tatort überwältigt. Es gibt keinerlei Spielraum für irgendwelche Zweifel an der Täterschaft, fraglich ist lediglich die juristische Einstufung.
Warum also die Formulierung vom "mutmaßlichen" Täter? Abgesehen davon ist der Journalist, der den Anreißer verfaßt hat, inkonsequent, denn am Ende des kurzen Textes ist kein Konjunktiv mehr, keine sonstige Distanzierung: "Er (der angeblich nur mutmaßliche Täter; W. H.) hat sechs Menschen erschossen und 14 verletzt." Punkt.

Im Radio habe ich vor vielen Jahren mal die bizarre Formulierung vom "mutmaßlichen Verdächtigen" gehört. Ich vermute mal, daß dieser semantische Eiertanz daher kommt, daß in den siebziger und achtziger Jahren ständig von mutmaßlichen Terroristen die Rede war. So häufig, daß "mutmaßlich" im Zusammenhang von Rechtsprechung die Bedeutung von "ganz besonders schlimm" bekam. Ein normaler Mensch weiß ja eh nicht, was "mutmaßlich" ist.

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